Eigener Stil
Die Erstausgabe des Tagebuchs, die ich 1947 von Annes Vater bekam, liegt mir sehr am Herzen. Hier handelt es sich größtenteils um die Texte, die Anne mit der Absicht geschrieben hat, sie später zu veröffentlichen. Sie schreibt 1944: „Ich selbst bin meine schärfste und beste Beurteilerin hier, ich weiß selbst was gut und nicht gut geschrieben ist.“ (Tagebuch, Version A, 5. April 1944) Deshalb bin ich mir sicher, dass sie sich von der neuesten, sogenannten „endgültigen Ausgabe“ (erstmals erschienen in 1991) distanziert hätte. In dieser Ausgabe ist sie als Schriftstellerin nicht ernst genommen worden. Passagen, die sie gestrichen hatte, wurden wieder hinzugefügt, wobei Bemerkungen, die sie hier und da zwischen die Zeilen gesetzt hat, übersehen worden sind.
Annes Tagebuch wird heute als bedeutendes literarisches Werk bezeichnet. Ich muss jedoch zugeben, dass es einige Zeit gedauert hat, ehe ich mir der literarischen Qualitäten von Annes Schriften bewusst wurde. Zuerst sah ich vor allem die Imitation der Joop-ter-Heul-Bücher, eine Serie damals beliebter Mädchenbücher der niederländischen Schriftstellerin Cissy van Marxveldt.
erst später entdeckte ich, wie Anne daraus einen eigenen Stil entwickelte. Aber das Buch enthält vor allem eine wichtige Botschaft. Eine Botschaft, die sich gegen Diskriminierung richtet. Heute sehe ich es als meine Aufgabe, diese Botschaft zu verbreiten und anhand von Annes Tagebuch zu zeigen, wohin es führen kann, wenn Diskriminierung und Vorurteile das Handeln von Menschen bis in die letzte Konsequenz bestimmen.
Das ist der Grund, warum ich nun Vorträge halte und Interviews über Anne Frank und unsere Freundschaft gebe. Ich denke dann oft an das kleine Mädchen, das die berühmte Anne Frank geworden ist, und daran, wie häufig ich mit der Frage: „Wo ist das Anne Frank Haus?“ auf der Straße angehalten werde, und an meine Gefühle, wenn ich ihren Namen in der Zeitung lese oder wenn im Fernsehen etwas über sie gebracht wird. Wenn ich höre, wie Staatsoberhäupter und andere bedeutende Menschen in ihren Reden Anne zitieren, illustriert das für mich die Absurdität der Situation. Anne wollte gern berühmt werden. Sie ist berühmt geworden, und wenn ich von ihr erzähle, überkommt mich jedesmal ein Gefühl der Fremdheit angesichts der Faszination der Menschen, die alles wissen wollen über die fröhliche, lebenslustige Anne, die von den Nazis ermordet wurde.
Hypothetische Frage
Nach meinem Vortrag stellte mir ein Mädchen einmal die hypothetische Frage: „Was würden Sie Anne gern fragen, wenn Sie ihr heute begegneten?“ Nach einigem Nachdenken antwortete ich: „Ich würde sie gern fragen, was es für sie bedeutet, dass gerade ihr Tagebuch die Aufmerksamkeit auf die eineinhalb Millionen jüdischer Kinder lenkt, die von den Nazis ermordet worden sind. Und was sie von ihrer introvertierten Freundin von damals denkt, die nun regelmäßig im Scheinwerferlicht steht, um über sie zu sprechen.“
Geschrieben von Jacqueline Sanders-van Maarsen (1929 - 2025) und zuerst im Anne Frank Magazine von 2001 erschienen. Wir veröffentlichen diesen Artikel als Erinnerung an Jacqueline und ihre großen Bemühungen und ihr Engagement, die Geschichte ihrer Freundin Anne am Leben zu erhalten und gegen Antisemitismus und Rassismus zu kämpfen.
Bücher
Meine Freundin Anne Frank erschien 1997. Es handelt sich um die Übersetzung der niederländischen Originalfassung Anne en Jopie von 1990. In der Ausgabe von Anne Franks Tagebuch von 1947 hieß Jacqueline van Maarsen Jopie de Waal. Inzwischen sind drei neue Bücher von Jacqueline van Maarsen auf Deutsch erschienen, die ausführlich auf die Freundschaft mit Anne Frank und auf die eigene Familiengeschichte eingehen:
- „Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank”. Erinnerungen (2004)
- Die Erbschaft. Erinnerungen der Jugendfreundin von Anne Frank (2006).
- „Deine beste Freundin Anne Frank". Erinnerungen an den Krieg und eine besondere Freundschaft (2013)