Zum ersten Mal werden die ursprünglichen Manuskripte, mit denen Anne Frank eine berühmte Schriftstellerin zu werden hoffte, vollständig online gezeigt und in ihrem historischen Kontext erschlossen.
Das Huygens Institut für niederländische Geschichte (Huygens ING) erforschte in Zusammenarbeit mit dem Anne Frank Haus Anne Franks Tagebücher, ihre eigene Bearbeitung der Einträge zu einem „Roman vom Hinterhaus“, ihre Kurzgeschichten und anderen Texte. Die Texte wurden in dieser Edition zusammen mit einer Darstellung der historischen Hintergründe und vergleichenden Analysen vereint. Nie zuvor war Anne Franks Entwicklung als Schriftstellerin so gut erkennbar.
Das Anne Frank Haus initiierte diese neue Edition, erforschte den historischen Kontext der Manuskripte und stellte einen großen Teil des Bildmaterials zur Verfügung. Die Forschungsarbeit des Huygens ING und des Anne Frank Hauses führte nicht nur zu neuen Erkenntnissen, sondern auch zu einer innovativen digitalen Edition, die sowohl Wissenschaftlern als auch interessierten Laien ein faszinierendes Bild vermittelt, wie Anne Frank ihre Texte verfasst und bearbeitet hat.
Das Tagebuch und der „Roman vom Hinterhaus“
Anne Franks Tagebuch ist das meistgelesene niederländischsprachige Buch weltweit. Weniger bekannt ist, dass Anne in der Zeit im Versteck beginnt, ihr Tagebuch zu einem Roman umzuschreiben, dem sie den Titel Het Achterhuis (Das Hinterhaus) gibt. Das Tagebuch dient ihr als Grundlage, doch sie schaut kritisch auf ihre früheren Einträge und wählt sorgfältig aus, was sie der Außenwelt mitteilen oder vorenthalten möchte. Sie verschiebt Passagen und schreibt Tagebuchbriefe neu, damit sie sich für ihren Roman eignen. So akzentuiert sie in Het Achterhuis die beklemmende Atmosphäre des Eingeschlossenseins noch einmal besonders. Anne konnte ihren Roman nicht vollenden. Nach dem Krieg lässt Otto Frank, Annes Vater, der den Holocaust überlebt, die Texte seiner Tochter als Buch veröffentlichen, ebenfalls unter dem Titel Het Achterhuis (1947). Den Inhalt stellt er aus Annes Tagebuch, ihrem Roman sowie einigen Hinterhaus-Ereignissen, die sie in ihrem Geschichtenbuch beschreibt, zusammen.
Gefühlsausbrüche gegen die Mutter
In die neue wissenschaftliche Online-Edition wurden Anne Franks Tagebuch und ihr „Roman vom Hinterhaus“ separat und vollständig aufgenommen. Der Herausgeber/Literaturwissenschaftler Peter de Bruijn (Huygens ING) veranschaulichte die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen beiden Texten bis ins Detail. Er entdeckte, dass die verbreitete Vorstellung, Anne habe bei der Überarbeitung ihres Tagebuchs den größten Teil ihrer Gefühlsausbrüche gegen ihre Mutter weggelassen, nicht zutrifft. „Im Gegenteil, Anne hat einige unmissverständliche Briefe über das Thema ‚Mutter‘ dem Manuskript hinzugefügt, sodass es nachträglich zu einem der Erzählstränge in Het Achterhuis wurde“, so De Bruijns Fazit.
„Der englische Sender spricht von Vergasung“
Das Anne Frank Haus hat in Zusammenarbeit mit Huygens ING untersucht, welche Fakten und Umstände in Bezug auf den Krieg und die Außenwelt zu welchem Zeitpunkt bekannt waren, auf welche Weise diese Informationen ins Hinterhaus-Versteck gelangt sein können und wie Anne sie wiedergegeben hat. Daraus resultiert ein besserer Blick auf die literarischen Freiheiten, die Anne sich bei der Bearbeitung ihres Tagebuchs mehr oder weniger bewusst erlaubt hat. Als Anne in Achterhuis-Briefen von 1942 zum Beispiel die Prämien erwähnt, die für die Denunziation von Juden bezahlt werden („Kopfgeld“), steht fest, dass hier ihr Wissen von später eingeflossen ist: Das Prämiensystem wurde nämlich erst im Jahr 1943 eingeführt. Auch das Wort „Vergasung“ benutzt sie in ihrem Tagebuch noch nicht, als sie 1942 über die Verschleppung von Menschen nach Polen schreibt. In Het Achterhuis fügt sie dann der entsprechenden Passage hinzu: „Der englische Sender spricht von Vergasung.“
Eingeklebte Fotos und Tintenflecken
Zum Schluss beschreibt diese Edition auch materielle Aspekte wie die benutzten Schreibmaterialien, Tintenflecken, Textbeschädigungen und andere Besonderheiten bis ins Detail. Insbesondere das rot-weiß karierte Tagebuch ist in dieser Hinsicht eine faszinierende, aber komplexe Quelle aufgrund der eingeklebten Fotos, Briefe und anderen Dokumente sowie der Bildtexte und Randnotizen, die Anne nachträglich – während sie in ihrem Tagebuch zurückblätterte – an zahlreichen Stellen eingefügt hat.
Urheberrecht
Da in den Niederlanden die Rechte an einigen Texten von Anne Frank noch nicht abgelaufen sind, erfolgte ein Teil der Forschungsarbeit, wie die Transkriptionen von Anne Franks Tagebüchern, in Belgien. In den Niederlanden ist die Online-Edition nicht einsehbar. In etwa sechzig Ländern, in denen das nach dem Urheberrechtsgesetz möglich ist, wie in Belgien, Deutschland und den Niederländischen Antillen, ist diese Editon jedoch für alle Interessierten online zugänglich: www.annefrankmanuscripten.org. Mittels Geoblocking wird die Verfügbarkeit auf diese Länder beschränkt. Später wird auch eine englischsprachige Fassung dieser Edition in den Ländern verfügbar sein, in denen das urheberrechtlich möglich ist.
Die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Online-Edition von Anne Franks Manuskripten wird von der Vereniging voor Onderzoek en Ontsluiting van Historische Teksten (Verein für Erforschung und Erschließung historischer Texte), Avenue Louise 209a / Louizalaan 209a, 1050 Brüssel (Belgien) editiert. info@annefrankmanusctipten.org